Über das geistige Oberhaupt der Tibeter ist ein Shitstorm hereingebrochen. Doch dieser zielt ins Leere. Tibeterinnen und Tibeter wehren sich.
In den sozialen Netzwerken ist die Empörung gross: Seine Heiligkeit Dalai Lama soll sich gegenüber einem indischen Jungen ungebührlich verhalten haben. Ein Video zeigt, wie er seine Zunge herausgestreckt und ihm sagt, er solle sie lecken. Die Urteile per Ferndiagnose waren schnell gemacht: «Das ist sexueller Missbrauch von Kindern!», meint eine Twitter-Nutzerin. Eine Vereinigung von Missbrauchsopfern in den USA spricht von einem «unverfrorenen sexuellen Akt». Medien rund um den Globus berichteten über den Vorfall. Der Dalai Lama, eine Weltikone der Friedfertigkeit und der Spiritualität, soll ein Kinderschänder sein?
«Kulturelles Missverständnis»
Der Dalai Lama selbst hat sich in einem kurzen Statement zu Wort gemeldet und den Vorfall bedauert. «Seine Heiligkeit möchte sich bei dem Jungen und seiner Familie sowie bei seinen vielen Freunden in der ganzen Welt für die Verletzung entschuldigen, die seine Worte verursacht haben könnten», heisst es auf seiner Website. «Seine Heiligkeit neckt oft Menschen, denen er begegnet, auf eine unschuldige und spielerische Weise, auch in der Öffentlichkeit und vor Kameras.»
Verschiedene tibetische Würdenträger und Organisationen stellen sich hinter den Dalai Lama und wehren sich gegen die Anschuldigungen. Penpa Tsering, der Chef der tibetischen Exil-Zentralverwaltung im indischen Dharamsala, sagte, der Dalai Lama sei «unfairerweise mit allen möglichen Namen bezeichnet worden». Penpa Tsering spricht von einer «unschuldigen, grossväterlich-liebevollen Haltung» des 87-Jährigen, die falsch interpretiert worden sei.
Ähnlich klingt es in der tibetischen Gemeinschaft in der ganzen Welt. Der Aufregung um die Geste liege ein «kulturelles Missverständnis» zugrunde, so der Tenor. Die tibetische Diaspora fürchtet, dass die mit dem Dalai Lama verbundenen positiven Assoziationen durch die irreführende Berichterstattung zerstört werden. Sie leiden unter diesem Vorfall – einer unglücklichen Kombination von «Fake News» und eben «kulturellem Missverständnis». Auch komme es zu Anfeindungen im persönlichen Umfeld. In Belgien sorgte der Fall eines 14-jährigen Mädchens für Aufsehen, dessen Lehrerin sie vor der Klasse anwies, nicht über den Dalai Lama zu sprechen, denn dieser sei pädophil.
Tibeterinnen und Tibeter bezeichnen den Schaden der «Fake-News» als «immens». So sagen Leute, sie hätten immer geglaubt, der Buddhismus und der Dalai Lama seien vertrauenswürdig – und das glaubten sie jetzt nicht mehr.
Zungengruss als Friedenszeichen
Bei genauerer Betrachtung erweist sich dies jedoch als rufschädigendes Vorurteil. Denn erstens ereignete sich der Vorfall in aller Öffentlichkeit. Er fand nicht in irgendwelchen schummrigen Hinterzimmern statt, sondern vor Publikum, darunter den Eltern des Jungen. Die Begegnung wurde – was der Dalai Lama wusste – live aufgezeichnet und dokumentiert. Böse Absichten kann man ihm also nicht unterstellen.
Zweitens: In jedem Reiseführer kann man nachlesen, dass das Herausstrecken der Zunge ein traditionelles Begrüssungsritual ist. So schreibt ein deutsches Reisemagazin: «Wenn dir in Tibet jemand die Zunge herausstreckt, ist er im Normalfall nicht frech, sondern will dir nur Hallo sagen.» Erfunden worden sei der Gruss von Mönchen als «Zeichen des Friedens». Gemäss einer anderen Quelle hat die Geste einen «sehr tiefgründigen Sinn»: Sie gehe auf den tibetischen König Lang Darma zurück, der im 9. Jahrhundert lebte und für seine Grausamkeit bekannt war. Aufgrund seines schlechten Wesens soll er eine schwarze Zunge gehabt haben. Deshalb strecke man bis heute zur Begrüssung seine Zunge heraus, um zu zeigen, dass man nicht die Reinkarnation des grausamen Lang Darma sei. Im bekannten Film «Sieben Jahre in Tibet» gibt es ebenfalls eine entsprechende Szene.
Schliesslich weist auch der betroffene Junge selbst die Vorwürfe zurück: Es sei unaussprechlich, wie «gesegnet» man sich in der Nähe Seiner Heiligkeit fühle, sagte er in einem Fernsehinterview. Es sei eine «sehr positive Erfahrung» gewesen. Mit dem Bild, das die westlichen und indischen Empörungsmedien zeigen, passt das nicht zusammen. In der tibetischen Gemeinschaft ist man der Ansicht, eine Entschuldigung der Medien für die schwerwiegenden Vorwürfe an den Dalai Lama wäre angebracht – obwohl ihnen der «Ozean der Weisheit» bestimmt schon vergeben habe.
Philipp Gut